Montaigne und die Moralistik

Montaigne und die Moralistik
Montaigne und die Moralistik
 
1580 erschien die erste, zweibändige Ausgabe der »Essais« des Landedelmanns Michel de Montaigne in Bordeaux bei Simon Millanges; 1588 folgte die ergänzte und um einen dritten Band bereicherte bei Abel l'Angelier in Paris, der auch die postume dritte, wiederum erweiterte Fassung von 1595 verlegte, die Montaignes »Herzenstochter« Marie de Gournay und sein Freund, der Lyriker Pierre de Brach, betreuten. Hinter diesen kargen Daten verbirgt sich bereits eines der wesentlichen Charakteristika des Werkes. Es ist ein Lebensbuch, das Montaigne seit seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit 1571 schrieb, das ihn begleitete, das seine Lektüren, seine einfachsten Tätigkeiten und schlichtesten Gedanken ebenso festhält wie seine nachdenklichen historischen und philosophischen Erwägungen.
 
Denn das Zentrum der »Essais« ist Michel de Montaigne selbst. Sich will er darstellen, ungeschminkt, sachlich, mit allen Stärken und Schwächen, nicht aus Eitelkeit und Selbstdarstellungstrieb, sondern in seiner Bemühung um den Menschen. Denn jeder einzelne trägt das ganze Menschsein in sich - also kann auch das Individuum Michel de Montaigne sich als Beispiel der Gattung Mensch vorführen. »Andere bilden den Menschen«, sagt er, »ich schildere ihn«, und zwar nicht als Kontinuum, als zumindest zeitweilig feste Einheit, sondern in seiner ununterbrochenen Bewegung, in seiner Wankelmütigkeit, der ständigen Ambivalenz, der Wellenbewegung seiner Gefühlsregungen: »Wahrlich, ein wundersam eitles, wandelbares und schillerndes Ding ist der Mensch. Es ist schwer, ein festes und eindeutiges Urteil auf ihn zu gründen«, schreibt er in seinem ersten Essay, um in einem seiner letzten den schlüssigen Zusammenhang zwischen dieser Eigenart des Menschen und seinem Vorgehen zu präzisieren: »Ich zeige nicht das Sein, ich zeige den Übergang: Nicht einen Übergang von einem Alter zum andern, oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute«. Seine Aussagen über den Menschen mögen daher in sich widersprüchlich sein, der Wahrheit des Menschen widersprechen sie nie.
 
Zu Beginn ist Montaigne sich der konkreten Gestaltung seines Vorhabens noch nicht gewiss. Gerade im ersten Band der »Essais« ist die Zahl der Zitate im Verhältnis zu seinem eigenen Text noch relativ hoch. Er braucht die zitierten Autoren gewissermaßen als Stütze für sein völlig neuartiges Vorhaben, das ja eben nicht autobiographisch sein soll wie etwa die »Bekenntnisse« des heiligen Augustinus, nicht belehrend oder bekehrend, nicht moralisierend. Gleichwohl zeigt sich ebenfalls bereits zu Beginn Montaignes besonderer Umgang mit seinen Quellen und Belegen. Er, der von seinem siebten Lebensjahr an mit seinem deutschen Hauslehrer lateinisch sprach, kannte viele antike Originaltexte; aber er zitiert oft aus Spruch- und Anekdotensammlungen und benutzt die Schriften Plutarchs am liebsten in den einzigartigen Übertragungen Jacques Amyots. Für den Verfasser der »Essais« sind die griechischen und römischen Autoren keine Autoritäten wie etwa für Petrarca oder für Machiavelli, der »prächtige Hofgewänder« anlegte, wenn er sich »in die Säulenhallen der großen Alten« begab. Auch sind deren Bücher für Montaigne keine Exerzierfelder staubtrockener Textphilologie - denn als Pedant will er auf keinen Fall erscheinen: Ihre Schriften und Aussagen sind ihm vielmehr etwas, das man in die eigene Argumentation geschmeidig einfügen kann, das erst hier seine eigentliche, lebendige und immer wieder neue Bedeutung erhält, das durch die innere Bewegung des Lesers nicht statisch wird, sondern dynamisch bleibt. Auch hierin drückt sich die Vorstellung von Freiheit aus, die Montaignes Denken und Handeln zutiefst prägt.
 
Die Gattung »Essay« selbst, mit der Montaigne Form und Ausdruck der Literatur bereicherte, zeigt schon dieses Bedürfnis nach Ungebundenheit. Der Essay, Versuch und Experiment zugleich, liefert ihm die Möglichkeit, vagabundierend zu denken, an einem Ort der Reflexion aufzubrechen, um nach vielen, in sich selbst nur lose zusammenhängenden Abschweifungen an einem vorher nicht erahnten Ziel anzugelangen, um souverän Verknüpfungen von Disparatem herzustellen, in deren Aussagemittelpunkt immer der Mensch, das Ich Michel de Montaigne, in seiner Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit steht.
 
Die Freiheitssehnsucht zeigt sich aber auch im privaten und im öffentlichen Leben Montaignes: Er heiratete widerwillig, war ein zwar pflichtbewusster, aber doch auch sehr auf seine Freiräume bedachter Ehemann; er hatte Kinder, hielt es aber für ein größeres Glück, keine zu haben. Auch in seinen Ämtern, die ihn bis in das des Bürgermeisters von Bordeaux führten, war er achtbar und in jener Zeit der Religionskriege um Toleranz und Ausgleich bemüht. Aber er ließ sich von ihnen nicht verschlingen, achtete darauf, hohle Geschäftigkeit zu vermeiden, um sich stets angemessen der gelehrten Muße, dem innehaltenden Nachdenken über die Daseinsbedingungen des Menschen widmen zu können.
 
Nur ein einziges Mal gab Montaigne sein innerstes Bedürfnis, sich alles ein wenig vom Leibe zu halten, auf, verließ das Maß, jene Mitte, für die er immer plädierte, jene in dem Bewahren der Distanz beruhende Behütung der Seele: 1557 begegnete er Étienne de la Boétie. Zwischen den beiden jungen Männern entstand spontan eine tiefe Seelenfreundschaft. In einem seiner schönsten Essays »Über die Freundschaft« versucht Montaigne, den tiefen Grund dieser Sympathie auszuloten. Die stoische Vorstellung, der Freund sei ein anderes Ich, verschmilzt wie selbstverständlich mit der persönlichen Erfahrung, die stolz in die Behauptung einmündet, eine solche Freundschaft komme nur alle 300 Jahre einmal vor. Umso schrecklicher traf Montaigne der frühe Tod La Boéties. Montaigne gab das schriftstellerische Œuvre des Freundes heraus, räumte seinen Sonettdichtungen einen Ehrenplatz im ersten Buch der »Essais« ein und beschwor vielfach liebevoll die Erinnerung an ihn.
 
Es ist nicht nur das Ende La Boéties, das das Nachdenken über den Tod zu einem zentralen Gegenstand der »Essais« macht, an dem sich erneut Montaignes intellektueller Autonomieanspruch, sein beharrliches Suchen nach (Selbst-)Erkenntnis erprobt. Äußerlich ist ihm das Sterben präsent durch die Grausamkeiten der Religionskriege, unmittelbar persönlich durch einen Sturz vom Pferd, dem eine todesähnliche Bewusstlosigkeit folgte, und durch seine immer bedrohlichen Koliken. Natürlich festigen auch Lektüren antiker Autoren seine Einsichten. Aber er gelangt weit über sie hinaus, dringt in Zonen des innerlichen Akzeptierens vor, das eine allumfassend verstandene Natur als Spenderin des Lebens und des Todes prägt. Nicht resignativ fügt er sich, sondern zustimmend, in der Einsicht, dass jedem Leben ein im Höchstmaß eigener Tod zusteht. Sein Ende am 13. September 1592 erscheint wie ein Bild der Übereinstimmung von Todesreflexion und Verscheiden.
 
Mit Montaignes »Essais« beginnt eine literarische Tradition, die man Moralistik nennt, eine Form der Literatur, die sich um die unsystematische Entlarvung der geheimen Beweggründe menschlicher Verhaltensweisen bemüht. Die Erkenntnisse, die seit La Rochefoucaulds »Sentenzen und Maximen« (1665) häufig in der Ausdrucksform des Aphorismus präsentiert werden, sind dabei in den unterschiedlichen Tonlagen von Ironie, Sarkasmus, Spott und Pessimismus gestimmt. Die Moralistik ist grenzüberschreitend und gemeineuropäisch, antik und humanistisch inspiriert. Baltasar Gracián in Spanien, Pascal und La Bruyère in Frankreich oder Schopenhauer, der ja auch Graciáns »Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit« ins Deutsche übersetzt hat, und Friedrich Nietzsche bürgen neben vielen anderen für Vielfalt und Möglichkeiten dieser Gattung.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a.31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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